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Artikel | Benefits Perspectives

Betriebliche Invalidenleistungen: Aktuelle BAG-Urteile

BAG 13.7.2021 (3 AZR 445/20, 3 AZR 298/20), 23.3.2021 (3 AZR 99/20)

Von Henning Rihn | 15. November 2021

Die Anforderungen an das Ausscheiden aus dem Unternehmen bzw. eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit als Anspruchsvoraussetzungen präzisiert das Gericht in drei Urteilen.
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Betriebliche Versorgungsregelungen zu Invalidenleistungen werfen in der Praxis regelmäßig Anwendungsfragen auf. Dies nicht zuletzt auch aufgrund der Regelungen zu den gesetzlichen Erwerbsminderungsrenten. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in drei Entscheidungen seine Rechtsprechung zu diesem Themenkomplex weiterentwickelt.

Eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit in einer Versorgungsregelung setzt nicht zwingend eine unbefristete gesetzliche Erwerbsminderungsrente voraus.

„Voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit“ als Anspruchsvoraussetzung

In der ersten Entscheidung (3 AZR 445/20) war die betriebliche Invalidenrente in der Versorgungszusage auf der Grundlage Allgemeiner Geschäftsbedingungen (AGB) an den Eintritt einer „voraussichtlich dauernden“ völligen Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Sozialversicherungsrechts geknüpft. Dem Versorgungsberechtigten wurde zunächst befristet eine gesetzliche Renten wegen voller Erwerbsminderung bewilligt, die nach drei Jahren als Dauerrente gewährt wurde. Das BAG sprach dem Versorgungsberechtigten die betriebliche Invalidenrente bereits ab dem Zeitpunkt der Bewilligung der befristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung zu.

„Voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit“ auch bei befristeter gesetzlicher Erwerbsminderungsrente

Der Senat bestätigt zunächst, dass es sich auch bei Verwendung der alten gesetzlichen Begrifflichkeiten der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit (seit 2001 knüpfen die gesetzlichen Invalidenrenten an eine teilweise oder volle Erwerbsminderung an) in betrieblichen Versorgungszusagen regelmäßig um eine dynamische Bezugnahme auf das jeweils geltende Sozialversicherungsrecht handelt. Auch entspreche die Rente wegen voller Erwerbsminderung nach Voraussetzungen und Inhalt der früheren Erwerbsunfähigkeitsrente. Beide gesetzliche Definitionen knüpfen daran an, dass der Berechtigte „auf nicht absehbare Zeit außerstande“ sein muss, im näher bestimmten Umfang erwerbstätig zu sein. Damit sei Voraussetzung, dass der Versicherte „voraussichtlich dauernd“ erwerbsunfähig bzw. voll erwerbsgemindert sei. Damit komme es für den Eintritt des Versorgungsfalls nicht darauf an, ob die gesetzliche Rente befristet oder als Dauerrente bewilligt werde. Dabei handele es sich lediglich um Verfahrensvorschriften, die nicht den Begriff der Invalidität festlegen.

Das Ausscheiden aus dem Unternehmen als Anspruchsvoraussetzung setzt nicht notwendig die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses voraus.

„Ausscheiden“ ist nicht zwingend die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses

Der zweiten Entscheidung (3 AZR 99/20) lag eine Gesamtzusage (ebenfalls AGB) zu Grunde, nach der Leistungsvoraussetzung ist, dass der Mitarbeiter aus den Diensten des Unternehmens ausscheidet. In dem zu Grunde liegenden Fall erhielt der Kläger jedenfalls seit Juli 2015 keine Entgelt- oder Entgeltersatzleistungen mehr. Im Jahr 2017 wurde rückwirkend ab Juli 2015 eine gesetzliche Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt. Zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses kam es in der Folge nicht. Das BAG hat dem Kläger ab Juli 2015 eine betriebliche Invalidenrente zugesprochen.

Tatsächliches faktisches Ausscheiden (Ruhen der beiderseitigen Hauptleistungspflichten)

Nach einer Auslegung der konkreten Zusage spreche einiges dafür, dass Ausscheiden im Sinne eines tatsächlich faktischen Ausscheidens (Ruhen der beiderseitigen Hauptleistungspflichten) zu verstehen sei und nicht die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses voraussetze. Die Versorgungszusage bestimme nicht selbst, was unter „Ausscheiden aus den Diensten“ zu verstehen sei. Ausscheidensklauseln bei betrieblichen Invaliditätsversorgungen hätten den Sinn sicherzustellen, dass nicht gleichzeitig Ansprüche aus Arbeitsvergütung einerseits und Ruhegeld andererseits entstehen können. Aufgrund einer Auslegung unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs (u. a. eine Klausel in der Zusage zur Fortsetzung des Dienstverhältnisses, wenn die Invalidität vorzeitig ende) gebe es gewichtige Gesichtspunkte, dass Ausscheiden im Sinne der Versorgungszusage nur das tatsächlich faktische Ausscheiden meine. Der Anspruch des Klägers ergebe sich jedenfalls aus der Versorgungszusage in Verbindung mit der Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB).

Der Ausschluss von Invalidenleistungen in AVB einer Pensionskasse für Zeiten vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses benachteiligt den Versorgungsberechtigten unangemessen.

Leistungsvoraussetzung der Beendigung des Arbeitsverhältnisses

In der dritten Entscheidung (3 AZR 298/20) lag eine Versorgungszusage im Durchführungsweg der Pensionskasse zu Grunde. Nach den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) der Pensionskasse setzt der Anspruch auf die Kassenleistungen voraus, dass das Arbeitsverhältnis beendet ist. Der Kläger war seit September 2017 durchgehend arbeitsunfähig. Auf seinen Antrag wurde ihm mit Rentenbescheid vom Januar 2019 rückwirkend ab April 2018 eine befristete gesetzliche Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Aufhebungsvertrag im Februar 2019, gewährte die Pensionskasse ab März 2019 eine betriebliche Invalidenrente. Der Kläger hält die Leistungsvoraussetzung der Beendigung des Arbeitsverhältnisses in den AVB wegen unangemessener Benachteiligung für unwirksam und macht rückwirkend ab April 2018 eine betriebliche Invalidenrente geltend.

Nach Auffassung des BAG sind die AVB einer Pensionskasse als Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) kontrollfähig. Der vollständige Ausschluss der Invalidenversorgung vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses benachteilige den Versorgungsberechtigten unangemessen i. S. v. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB. Bei der hier vorzunehmenden umfassenden Würdigung der beiderseitigen Positionen unter Einbeziehung der Interessen des Arbeitgebers überwiegen die Arbeitnehmerinteressen. Die Verknüpfung der Invalidenrente mit dem Ausscheiden übe Druck auf den Mitarbeiter aus, über sein Arbeitsverhältnis bereits zu einem Zeitpunkt zu disponieren und dieses ggf. aufzugeben, zu dem noch gar nicht feststehe, ob er überhaupt die Voraussetzung einer Invalidenrente erfüllen wird und wie lange die Pensionskasse für eine Entscheidung über die materiellen Voraussetzungen der Invalidenrente benötige. Dieser Druck sei nicht mehr hinnehmbar, wenn sich die positive Entscheidung aus Gründen, die nicht in der Sphäre des Versorgungsberechtigten liegen, um mehr als zwei Monate nach der Antragstellung bei noch bestehendem Arbeitsverhältnis verzögere. Für den Zeitraum einer solchen unangemessenen Verzögerung müssen – berechnet vom Ende des Arbeitsverhältnisses – rückwirkend Rentenleistungen erbracht werden.

Die Beendigungsklausel ist damit eigentlich unwirksam. Das BAG hält jedoch eine ergänzende Vertragsauslegung für geboten, sodass die folgende Klausel als vereinbart gelte:

„Die Dienstunfähigkeitsrente wird ab Beendigung des Arbeitsverhältnisses rückwirkend für die Dauer des Zeitraumes gewährt, um den sich die positive Entscheidung auf einen Antrag des Mitglieds vor dem Ende seines Arbeitsverhältnisses aus Gründen, die nicht in der Sphäre des Mitglieds liegen, um mehr als zwei Monate ab der Antragstellung bei der Kasse verzögert.“

In dem konkreten Fall wurde die Klage abgewiesen, weil die Entscheidung über die Rente zeitnah nach Antragstellung erfolgte und die Rentenzahlung dann nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses begann.

Hinweise für die Praxis

Insbesondere die ersten beiden Entscheidungen zeigen, dass bei der Formulierung der Invaliditätsleistungen in betrieblichen Versorgungsregelungen besondere Sorgfalt geboten ist, um ungewünschte Auslegungsergebnisse und Rechtsfolgen zu vermeiden. Dies gilt in besonderem Maße, wenn es sich um AGB (z. B. Gesamtzusage, vertragliche Einheitsregelung) handelt.

Konsequenzen und Reichweite der dritten Entscheidung sind nicht leicht einzuschätzen. Das BAG verlangt nicht, dass die Invalidenrente schon im laufenden Arbeitsverhältnis gezahlt wird. Der Senat sieht vielmehr eine Drucksituation, weil es auf die Dienstunfähigkeit nach Ausscheiden ankam und die Entscheidung durch einen Dritten (Pensionskasse) getroffen werde. Der Mitarbeiter konnte erst nach dem Ausscheiden den Antrag bei der Pensionskasse stellen. Konsequenz ist, dass der Mitarbeiter die Möglichkeit haben muss, noch im laufenden Arbeitsverhältnis eine Entscheidung zu erhalten, ob er (nach Ausscheiden) Anspruch auf die betriebliche Invalidenrente hat. In der Praxis dürfte die Entscheidung primär für externe Versorgungsträger mit langer Antragsprüfung relevant sein. Hingegen erfolgt bei einer Direktzusage die Antragsprüfung unmittelbar durch den Arbeitgeber, mit dem auch die Beendigung des Arbeitsverhältnisses vereinbart wird, sodass hier mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch die bAV feststeht.

Autor

Director Retirement, Legal

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